Werkbeschreibung
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Verfasser: Hermann Patsch und Sigrun Hesse
Die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach
Die (spaßig sogenannten) Bach-Theologen haben den Komponisten (1685-1750) den „fünften Evangelisten“ genannt. Und in der Tat: Keiner außer dem Leipziger Thomanerkantor hat dem deutschen Musikinteressierten die Texte aus Luthers Bibelübersetzung so nahe gebracht wie Bach. Wer seine Passionen – es gibt neben der Johannes-Passion und der Matthäus-Passion eine verloren gegangene Markus-Passion (die gelegentlich rekonstruiert wird), sogar eine als Gemeinschaftsarbeit der Bach-Familie geltende Lukas-Passion – mehrfach gesungen oder gehört hat, bekommt die dramatischen Evangelien-Texte nicht mehr aus dem Ohr. Ob die Uraufführung am Karfreitagsgottesdienst 1727 oder 1729 stattfand, darüber streiten die Musikgelehrten; für die Praxis der Musik spielt das keine Rolle. Aber die heutigen Hörenden bekommen doch in der Regel niemals das zu erleben, was die Leipziger Besucher in der Vesper (im Nachmittagsgottesdienst ab 14 Uhr) der Leipziger Thomas-Kirche erwartete: eine (lange) Karfreitagspredigt – zwischen den Teilen I und II der Passion – samt Verlesung der liturgischen Passionstexte. Das war ein 4-5stündiges Gesamtkunstwerk. Die Gemeinde hatte einen „Kirchentext“, also den Libretto-Text in den Händen, der vermutlich käuflich war. Dass die meisten Hörerinnen und Hörer stehen mussten, wird man annehmen dürfen. Das muss man sich hinzudenken, um die zeitgenössische „Gebrauchsmusik“ (Martin Geck) nachvollziehen zu können. Darum bleibt der Kirchenraum und nicht der Konzertsaal weiterhin der notwendige Aufführungsort.
Es sind eine Frühfassung von 1727 bzw. 1728/29 (BWV 244b, eine Abschrift) und eine Spätfassung von 1736 (BWV 244) in einer Schmuckhandschrift aus Bachs eigener Hand erhalten, in die der Komponist die Worte des Evangelisten und den Choral „O Lamm Gottes unschuldig“ mit roter Tinte eingetragen hat. Das ist als religiöses Bekenntnis zu lesen. Diese Spätfassung wird in aller Regel aufgeführt, auch vom Nymphenburger Kantatenchor. Was überrascht, aber nicht zu hören ist: Zehn Arien unterliegen dem Verdacht der Parodie, d. h. dass Melodien der Matthäus-Passion ursprünglich für einen säkularen Text gedichtet waren, nämlich für die Köthener Trauermusik von 1729, deren Notation allerdings nicht erhalten ist, sondern nur der Text des Librettisten Picander, der auch für den Arientext der Passion verantwortlich ist. Zumindest für die berührenden Arien Nr.6 „Buß und Reu“, Nr.8 „Blute nur“, Nr. 49 „Aus Liebe will mein Heiland sterben“, Nr. 65 “Mache dich, mein Herze, rein“, die gern als Höhepunkte der Matthäus-Passion angesehen werden, ist das der Fall. Man wird hier von simultanen Kompositionen reden müssen (Burkhard Stauber). Es spricht für die Genialität Bachs, dass Musik und Text weiterhin als eine großartige Einheit erscheinen und als solche zu hören und zu erleben sind.
Die Matthäus-Passion ist Bachs umfangreichste Komposition, was Spieldauer und Aufführungspraxis betrifft: Zwei Chöre, zwei Orchesterbesetzungen, fünf Solisten in den üblichen Stimmlagen SATB neben acht kleineren Gesangsrollen, die gern von Mitgliedern der Chöre übernommen werden. Der Evangelist – nur vom Basso Continuo begleitet – wird von einem Tenor gestaltet. Hier ist sozusagen die rote Farbe der soeben erwähnten Handschrift in Musik umgesetzt worden. Die Partie der Jesus-Gestalt wird von einem Bass gesungen. Das Zwiegespräch zwischen dem Chorus und dem Evangelisten treibt die dramatische Handlung voran. Die Rezitative und Arien deuten das Geschehen. Die vierstimmigen Choräle beteiligen die hörende Gemeinde, die das Passionsgeschehen auf sich bezieht („Ich bin’s, ich sollte büßen“). Reizvoll sind die Zwiegespräche zwischen Chorus und Solisten, die das äußere Passionsgeschehen kommentieren und dramatisieren („Lasst ihn, haltet, bindet nicht!“). Der lange Schluss-Choral zum Ende des ersten Teiles vereint beide Chöre und bindet die Orgel mit ein. Hier kann man sich den Übergang zur Vesperpredigt denken. Jetzt hat die Karfreitagspredigt das Wort!
Der zweite Teil beginnt – sichtlich nach der Predigt – mit einem Zwiegespräch zwischen Chorus und Sopran, das mit einem christologisch gedeuteten Text aus dem Hohen Lied die Suche nach dem „Freund“ der „Schönsten“ (d. h. der Gemeinde) aufnimmt und in das Passionsgeschehen zurückführt. Im Choral muss die Gemeinde wahrnehmen, dass Jesus vor dem Hohenpriester die Tücke der Welt erwartet („Wer hat dich so geschlagen?“), wozu auch die Verleugnung des Petrus gehört. Hochdramatisch und effektgeladen ist der „Barrabam“-Schrei beider Chöre. Beide Chöre als Repräsentanten des Volkes vereinigen sich in der Verurteilung („Lass ihn kreuzigen“), wogegen die trauernden Choräle der Gemeinde und die Alt- und Bass-Arien im Wechsel der Chöre nicht ankommen. Das Volk bereut zu spät. Der Höhepunkt der Erschütterung vereinigt beide Chöre im Choral („Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.“). Der Schluss klingt tröstlich und blickt auf die Auferstehung („Mein Jesu, gute Nacht!“). Eine Karfreitagsmusik darf wie die Karfreitagspredigt nicht in der Verzweiflung verharren.
Die Matthäus-Passion ist ein Werk von einzigartigen Ausmaßen und unvergleichlicher Erhabenheit; sie stellt einen Gipfelpunkt der abendländischen Musikgeschichte dar. Merkwürdig genug, dass sie seinerzeit keinerlei Echo erzeugt hat und geradezu vergessen war, bis genau hundert Jahre später Karl Zelter und der junge Felix Mendelssohn sie, um die Hälfte gekürzt und romantisiert, erneut mit Leben erweckt haben. Seither ist sie aus dem modernen Musikleben nicht mehr wegzudenken.